Wie ein Zombie sah er aus, der Mann um die 40, der mit blutenden Schienbeinen und in zerrissener Hose über die Mauer kletterte, zwischen Hasel und Holunder in den Giersch stürzte, durch unseren Garten wankte und ins Haus wollte. “Kann ich rein? Ich bin unschuldig und auf der Flucht.” Natürlich durfte er rein.

Weil ich nicht mit jemandem diskutiere, den ich null einschätzen kann. Ist er bewaffnet? Ist die Polizei hinter ihm her? Oder eine Bande Verbrecher, die ihn lynchen will? Soll er erst mal rein. Wir müssen ja nicht mit.
Barfuß über scharfen Schotter
Er ist gleich im Keller verschwunden. Ich habe hinter ihm die Tür verschlossen, die Kinder auf den Arm und an die Hand genommen. Und wir sind raus auf die Straße, schnell weg. Barfuß über kühlen Teer und scharfen Schotter.
Wie erleichtert ich war das Blaulicht der Streife zu sehen. Aufgeregt brüllende Polizisten, keine Mafia. Und ich beschließe den Gehetzten zu verraten, deute aufs Haus: “Im Keller!”. Wir gehen auf Abstand auf den Spielplatz, setzen uns und versuchen Ruhe zu bewahren.
Was ist, was nicht ist und wie all das gleichzeitig ist
Wir hören: “Kommen Sie raus, oder wir machen Gebrauch von unseren Schusswaffen!” Hinter uns schaukelt eine Mutter ihr Kind. “Wir umstellen das Haus und warten, bis die mit den Hunden da sind!” Zwei Jugendliche auf Rädern und Nachbarn kommen zum Gaffen auf die Straße. “Gaffer”, denke ich, und gaffe selbst. “Wenn Sie nicht raus kommen, stürmen wir!” Ein Linienbus kann nicht an den quergeparkten Polizeiautos vorbei. Der Weg ist so blockiert, wie es meine Gedanken durch Angst sind.
Ich sehe den Bus durchlöchert von Schüssen. Brennend. Explodierend. Die Schaulustigen verletzt und erschossen, das Haus verwüstet von Kampf. Aufgebahrte Tote. Nichts davon passiert, dennoch ist es da. Gleichzeitig beruhige ich die Kinder. “Wir haben alles gut gemacht. Uns wird nichts passieren. Wir warten nun einfach ab und stellen unsere Fragen später. Wenn alles vorbei ist.”
Gebrüll. Plötzlich Ruhe. Ein Feuer flammt auf und löst meine Spannung. Ein Polizist zündet sich eine Zigarette an. Wir kehren zurück.
In unserer Einfahrt sitzt nun ein Mann in Handschellen. Ich will nicht gesehen werden, weil ich ihm nicht in Erinnerung bleiben will. Den Wunsch zu gaffen unterdrücke ich. Wir erfahren, dass zwei Fluchtversuche hinter ihm liegen. Der erste geglückt, weil er aus sieben Metern Höhe aus einem Haus gesprungen war. Der zweite war gerade geendet. Und nun liegen drei Jahre Haft vor ihm.
Energie fürs Erdbeerbeet
Der Notarzt kommt. Der Sanka. Ein Radfahrer motzt, weil die Straße versperrt ist, und gibt nun seine Personalien an. Wir wollen gegen den künftigen Häftling keine Anzeige erstatten. Und die Nachbarin packt Diebe, den sogenannten Islamischen Staat und Ausländer in eine Schublade. Dass sie mit russischem Akzent spricht, krönt die Absurdität.
Nach dem Abendessen und dem Anzünden einer Fackel, mit der wir den Schrecken vertrieben, haben wir Erdbeeren gepflanzt. Weil wir das eh wollten. Und weil man beim Anlegen eines neuen Beetes so viel Herzpochen los werden kann.
Erleichterte Grüße aus dem Garten
Maria
Dieser Beitrag ist mit Ausgabe Nr. 5 des lesenserten Raumseele-Sonntagsblatts verlinkt:
Oh mein Gott! Bin ich froh, dass Euch nichts passiert ist! So eine Erfahrung braucht kein Mensch. Fühl Dich ganz, ganz fest von mir umarmt und hoffentlich kommt Ihr gut über den Schrecken weg. Du hast absolut großartig und richtig reagiert. Ich weiß nicht, ob ich das so souverän hinbekommen hätte.
Omg, soviel Aufregung! Erdbeeren sind gut, richtig gut! Ha!
Das werd ich mir merken wenn sich bei mir mal ein Ausbrecher verstecken will. Moment, wir haben ja keinen Keller…
Oha richtig spannend geschrieben😱 gut dass euch nichts passiert ist 🙂