Energiebilanz

Einer fuchtelt mit dem Smartphone: “Ich meine wir leben doch als wären wir tot. Uns kann keiner aus dem Leben reißen, weil wir gar nicht drin sind! Wir lassen uns out faden, verschwinden im Dunst unserer Dampfplauderei! Wir stieren in eine bunte Welt ohne Topographie. Nichts duftet, stinkt, schmeckt, ätzt, liebkost, atmet, enttäuscht. Wegwischen können wir sie, einfach Wegwischen! Sisyphos, das Existenzielle, Wegwischen!” Er hält sein Phone dem Anderen hin: “Meine Kontur besteht aus heruntergeladenen Quadraten. Und dass es in mir trotzdem so schwarz sein kann, schwarz wie ein Pech, das ich noch nie gesehen habe, ist… Scheiße… Hast Du ein Ladegerät da?”

Anderer antwortet ohne aufzublicken: “Mmh.” Einer fuchtelt weiter: “Wir wissen natürlich nicht, was Totsein für den Toten bedeutet, wenn gleich wir uns einiges vorstellen könnten, zum Beispiel, dass Steve Jobs an der App “Postcards from heaven” arbeitet, hahaha.” Der andere blickt auf: “Haha. Ja.” Einer fand seinen Witz eigentlich doof, peinlich, beschämend. Eine Ausflucht musste es doch geben. Ach ja, der andere hatte was zugesagt: “Ladegerät?”

Anderer erbittet erneut darum zu warten, weil er noch etwas nachsehen möchte: “Moment.” Einer wird wieder heftig (und Du wirst nicht glauben, was Du nicht glauben willst so wie Du glauben wirst, was Du glauben willst, weil sine studio et irae VOR der Erfindung des Internets und seiner Empörungskultur gegolten hat. Wenn überhaupt!): “Wie es für die Hinterbliebenen ist, das wissen wir. Die werden zurückgelassen. Das ist für uns super, weil wohin? Keine Ahnung, aber weg! Auf jeden Fall. Und immer schön BIO!!!”

Der Andere scheint fertig zu sein, denn er sucht jetzt ein Ladekabel: “Hier.” Einer: “Wir machen alle zu unseren Hinterbliebenen!” Einers Smartphone lädt nun. “Danke. Und wir sehen ihnen dabei zu. Wir schauen aber nicht hin. Wir hören sie. Wir hören ihnen aber nicht zu.” Der Andere blickt auf: “Kein Umstand. Doch, hör’ Dir schon zu.”

Einer sagt: “Bio.” Der Andere sagt: “Auf jeden Fall.”

Einer triumphiert: “Das meine ich. Keine Ahnung, aber so tun als ob. Wir haben uns selbst weg gewischt. Und wir wischen jetzt den anderen eine, sie merken es nicht mal, weil wir smart sind, frisch geduscht, wir sind unsere liebste Wertanlage, haben in uns investiert. Mein Ernährungsberater! Mein Life-Style-Coach! Mein Wellnesswochenende! Gezupft. Getupft. Rasiert. Geschmiert. Kaschiert. Mattiert. Grundiert. Bemalt. Und so natürlich.” Der Andere: “‘türlich ‘türlich, Mann, Lichtjahre weg das Lied.”

Einer: “Doch es klappt nicht! Wir sind weg und die Angst bleibt. Die Angst, dass wir etwas falsch machen könnten. Dass wir etwas verpassen könnten. Nicht verpassen könnten. Angst aber reicht nicht, wir sind Musterknaben, wir haben RICHTIG Angst! ! Wir WISSEN, wo der Feind lauert: Im Einkaufsregal im Supermarkt als… such’ Dir was aus, nimm Fett, genau, erzähl’ von “Fett”, kombinier’s mit “Energiebilanz” und einem viel, einem sehr viel sagenden Blick!” Der Andere schaut irritiert. Einer: “Reicht schon wieder. Und dann erklär’ Deinem gerade anwesenden, selbst schon verwesenden Hinterbliebenen SEINE/IHRE Energiebilanz! Denn Selbsterkenntnis reicht nicht! Du bist erst gut, wenn der andere weiß, dass und warum du gut bist!” Der Andere zufrieden: “Meine ist ok zur Zeit.”

Einer mit Schnappatmung, an einem Rad drehend, das er offenbar nicht mehr stoppen kann: “Du! Mir! MEINE! Energiebilanz. Und die ist nicht ok zur Zeit! Wir verzichten ACHTSAM auf Dinge, aber verdoppeln die Zahl der Worte, die wir darüber… verlieren und sagen dabei… nichts. Alles Maßlose meditieren wir dermaßen vernünftig…  weg. Denn es gibt die guten Dinge… noch. Und diese Leere, dieses Komm-ich-heut-nicht-komm-ich-morgen, diese Nabelschau mit Makrozoom wäre auszuhalten. Wenn es keinen Kontrast gäbe! Wenn da nicht diese  Flüchtlinge wären! Ihre Beine und Träume zerschmettert. Bauchschuss! Die kriechen zu uns mit letzter Energie, fern jeder Bilanz. Die sind da und die gehen nicht, weil es für sie kein WOHIN gibt! In Idomeni, hast Du das gesehen? Wie die gegen die Zäune angestürmt sind und welche  Routen sie in Kauf nehmen? Vielleicht wenn wir aufhören würden, ich meine, wenn wir anfingen…”

Der Andere: “Mmh. Weiß nich’. Also ich sterb’ vor Hunger. Kennst Du das, wenn man vergisst zu essen?”

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